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Warum Annette Kurschus zurücktreten musste

Wie gravierend das Vergehen der zurückgetretenen EKD-Ratsvorsitzenden war, ist noch unklar. Sicher ist: Sie schätzte völlig falsch ein, was Menschen heute von der Kirche erwarten.

Annette Kurschus bei der Pressekonferenz, auf der sie ihren Rücktritt als EKD-Ratsvorsitzende bekanntgab. | Foto: Detlef Heese / epd-Bild
Annette Kurschus bei der Pressekonferenz, auf der sie ihren Rücktritt als EKD-Ratsvorsitzende bekanntgab. | Foto: Detlef Heese / epd-Bild

Es war ein bitterer Moment für Annette Kurschus: Nach nur zwei Jahren im Amt ist die 60 Jahre alte Theologin im November als Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zurückgetreten. Doch es wurden auch Zweifel laut, ob ihr Rückzug wirklich notwendig war.

Vorgeworfen wird Kurschus, dass sie Ende der 1990er Jahre als Pfarrerin in Siegen Berichten von Betroffenen nicht nachgegangen sei, die ihr von sexueller Nötigung seitens eines Kirchenmitarbeiters berichtet hätten. Der Fall liegt seit Frühjahr bei der Staatsanwaltschaft. Was genau damals vorgefallen ist, wird wohl erst im Laufe der Ermittlungen gegen den inzwischen verrenteten Beschuldigten herauskommen.

Vergleichbar mit den systematischen Vertuschungsversuchen katholischer Bischöfe ist der Fall Kurschus allerdings nicht. Nach allem, was man bisher weiß, war sie weder als Dienstvorgesetzte in Verantwortung, noch hat sie aktiv versucht, etwas zu vertuschen. Sie selbst sagt, dass es damals um Vorwürfe von Homosexualität und „Ehebruch“ gegangen sei, was im frömmlerischen Siegen allgemein als „sexuelles Fehlverhalten“ gegolten hat. Betroffene jedoch sagen aus, es seien damals bereits Vorwürfe von sexueller Nötigung unter Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen erhoben worden.

Hier vermischen sich zwei Ebenen, die Debatten über sexualisierte Gewalt in der Kirche prägen: die persönliche Verantwortung kirchlicher Amtsträgerinnen auf der einen Seite, und die Tatsache, dass das Christentum früher eine Sexualmoral vertreten hat, die heute als menschenfeindlich eingestuft werden muss. Mit etwas kommunikativem Geschick hätte man das offen thematisieren können. Aber Kurschus agierte nach dem Lautwerden der Vorwürfe maximal ungeschickt. Zum Beispiel verleugnete sie anfangs, wie eng sie mit dem Beschuldigten befreundet war. Dann berief sie sich auch noch auf Erinnerungslücken. Sie handelte also genau so, wie man es von Vertuschern erwartet, und stellte sich selbst als Opfer dar.

Das funktioniert heute vielleicht in rechtspopulistischen Milieus, aber nicht in der evangelischen Kirche. Eine aktuelle Untersuchung zur Kirchenmitgliedschaft hat das gezeigt: Die große Mehrzahl derer, die sich einen Austritt vorstellen können, so die Kirchentheoretikerin Friederike Erichsen-Wendt, erwarten, dass die Kirche offen zu ihren Fehlern der Vergangenheit steht und veränderungsbereit ist.

Deshalb war der Rücktritt von Annette Kurschus unvermeidlich. Weil es beim Umgang mit sexualisierter Gewalt heute nicht mehr nur um die Frage nach der individuellen Verantwortung einzelner Personen geht, sondern um eine Neuausrichtung der Kirche insgesamt. Am Ende hat Kurschus das wohl selbst eingesehen.


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Antje Schrupp 227 Artikel

Dr. Antje Schrupp ist Chefredakteurin des EFO-Magazins. Die Journalistin und Politikwissenschaftlerin bloggt auch unter www.antjeschrupp.com Mastodon: @antjeschrupp@kirche.social