Leben & Alltag

An Feiertagen ist es ganz schlimm: Wenn Menschen lange Zeit arbeitlos sind

Nach einiger Zeit war Martin nicht nur arbeitslos, sondern auch einsam. Er verkroch sich in seiner Wohnung, schaute Fernsehen und wurde ein bisschen wunderlich, weil er kaum noch mit jemandem sprach. „Man muss dann immer erklären, warum man arbeitslos ist“, sagt er schulterzuckend, „da redet man dann lieber gar nicht mehr.“

Mittagstisch bei HIN, Hilfe im Nordend
Mittagstisch bei HIN, Hilfe im Nordend

Martin lebt seit 16 Jahren in Frankfurt und will lieber Martin genannt werden als mit seinem richtigen Namen, wie die meisten Langzeitarbeitslosen, die montags beim offenen Treff des Vereins Hilfe im Nordend (HIN) in der Evangelischen Luthergemeinde vorbeischauen. Dabei hat Martin inzwischen wieder eine Beschäftigung gefunden: Bei der gemeinnützigen Dienstleistungsgesellschaft GFFB recherchiert und ordnet er Seniorenangebote im Internet, Auftraggeber sei die Bundesanstalt für Arbeit.
„Endlich kann man am Wochenende wieder ausschlafen,“ sagt der schmale Mann mit Brille und schütterem Haar. Als Langzeitarbeitsloser konnte er das zwar auch, jeden Tag, aber da war es keine Besonderheit, keine Freude: „Wenn man nicht mehr weiß, ob jetzt Sonntag oder Montag ist, ist das schlimm“, sagt er rückblickend.

Nach Frankfurt war der technische Zeichner wegen eines Jobs gekommen, den er ein paar Jahre später verlor. Aufgewachsen in Bayern hatte er am Main keine eigene Familie, kaum Freunde. „Wenn man über 50 ist, findet man nicht mehr so schnell was Neues“, erklärt Michael Eismann, verantwortlicher Sozialarbeiter bei HIN. „Ist man dann länger ohne Arbeit, kratzt das nicht nur am Selbstbewusstsein, es isoliert auch zunehmend.“ Gegen diese Isolation, für erlebte Gemeinschaft, Teilhabe, psychosoziale Beratung und auch Fortbildungen engagiert sich HIN seit 1991.

Michael Eismann war schon vor genau 30 Jahren dabei, als in der Luthergemeinde auf Initiative des damaligen Pfarrers Jürgen Schwarz und Sozialarbeiterin Rose Maria Konang eine erste Gesprächsgruppe und ein wöchentliches gemeinsames Kochen mit Erwerbslosen gestartet wurden. 2017 kamen übers Jahr betrachtet 51 Männer und Frauen regelmäßig zu den verschiedenen HIN-Angeboten, führte Eismann insgesamt fast 600 Beratungsgespräche. Vier Besucher konnten in eine feste Anstellung vermittelt werden.
„Das primäre Ziel ist es, jeden da abzuholen, wo er steht, ernst zu nehmen, zu fördern“, erklärt Eismann. Vernetzung mit anderen gemeinnützigen Hilfsangeboten, Beratung, nicht Therapie ist, was er den Ratsuchenden anbietet. Vor allem aber: „Ein offenes Ohr, niedrigschwellige Angebote für Menschen in ähnlicher Situation – das ist entscheidend.“
Die Luthergemeinde unterstützt den Verein, indem sie kostenfrei Räume und Infrastruktur zur Verfügung stellt, 55 Prozent seiner Arbeit wird durch die Stadt Frankfurt, 45 Prozent finanziert die evangelische Kirche.

Neben den kulturellen und sozialen Angeboten, möglichst von den Erwerbslosen mitgestaltet, hat der Verein schon 1991 ein eigenes Beschäftigungsprojekt gegründet, einen Ehrenamtlichen Hilfsdienst durch die Erwerbslosen: „Putzen, Einkaufen, spazieren gehen, zum Arzt begleiten oder auch nur reden, Kaffee trinken, vorlesen – wir machen nichts am Körper, sonst alles“, erzählt Eismann.
15 bis 20 Erwerbslose helfen auf diese Art seit Jahren einsamen, alten oder kranken Menschen in der Gemeinde, auch in anderen Gemeinden, erhalten dafür eine Aufwandsentschädigung von acht Euro pro Stunde. Manche Kunden brauchen nur temporär Unterstützung, andere regelmäßig über einen längeren Zeitraum. Sie bezahlen 10 Euro für diese Hilfe, von der Differenz finanziert der Verein Fortbildungen und die Unfallversicherung.

Mit der Kombination aus Begegnung, Beratung und Beschäftigung bietet der Verein HIN im Raum Frankfurt ein einmaliges Angebot: „Die Idee ist, die Fähigkeiten des Einzelnen zu erkennen und zum Vorschein zu bringen“, sagt Michael Eismann, „ob beim Organisieren von Tagesausflügen, Kochen oder beim Hilfsdienst.“ Für etwas gelobt oder gebraucht zu werden, schaffe das so wichtige Sinn- und Selbstwertgefühl. „Entscheidend für unsere Besucher ist, wieder unter Menschen zu gehen, sich etwas zuzutrauen, für etwas Verantwortung zu übernehmen“, so Michael Eismann.

Gemeinsames Essen bei HIN, Hilfe im Nordend
Gemeinsames Essen bei HIN, Hilfe im Nordend

Heribert und Bruno, Maria, Heike oder Martin – sie alle kommen genau deshalb regelmäßig zu den Veranstaltungen der HIN. Bruno, der am Bau gearbeitet hat, bis er es gesundheitlich nicht mehr schaffte. Heribert, der Architekt war, die ehemalige Sozialarbeiterin Maria oder Heike, die als Erzieherin tätig war – sie alle verloren irgendwann ihre reguläre Tätigkeit, wurden dadurch vielleicht krank oder noch kränker, fanden den Weg nicht mehr zurück in die Gesellschaft.

„Ich habe vier Geschwister, wir mussten immer alle mit anpacken“, erzählt die 56jährige Heike. Durch eine Langzeiterkrankung wurde sie 2004 arbeitslos, erholte sich mühsam, versuchte es erneut, wurde wieder krank, auch der Versuch, sich selbständig zu machen, scheiterte. „Man schämt sich, igelt sich ein“, sagt Heike.
In der Familie wurde ihre Geschichte zunehmend totgeschwiegen, sie selbst wollte irgendwann auch nicht mehr drüber sprechen: „Meine Geschwister sind alle berufstätig, verheiratet – so richtig haben sie meine Situation nie verstanden.“ Seit 2004 besucht die Frau mit den dichten dunklen Haaren die Angebote des HIN: „Hier musste ich mich nicht jedes Mal neu erklären“, sagt sie.

Für Heribert und Bruno ist der offene Treff „wie ein zweites Wohnzimmer“, für Maria „wie eine zweite Familie.“ Die beiden älteren Männer haben sich beim offenen Gruppentreff kennengelernt, arbeiten beim Hilfsdienst mit, organisieren gemeinsame Ausflüge für kleines Geld. „So sind wir schon durch die ganze Republik gereist“, sagt Heribert.
Maria, ausgebildete Sozialarbeiterin, ist ganz ehrlich: „Ohne die Angebote vom HIN hätte ich es nicht geschafft.“ Immer wieder hat die gepflegte Frau mit der Muschelkette um den Hals versucht, ihre Arbeit auszuüben, immer wieder ist sie nicht zurecht gekommen, mit den Kollegen, dem Arbeitsklima, den Anforderungen. Ihre Ehe scheiterte, immer öfter wurde sie krank. „Langzeitarbeitslosigkeit wirkt sich oft erschwerend auf Beziehungen aus oder hat psychosomatische Krankheitsbilder zur Folge“, erklärt Michael Eismann.

Beim HIN traf Maria auf Menschen mit ähnlichem Schicksal. Nur Feiertage und Ferien waren „schlimm“ für sie: „Wenn hier über Weihnachten nichts stattfand, oder der Michael mal Urlaub hatte, dann bin ich in ein tiefes Loch gefallen“, erzählt sie. Die alte Heimat in Münster (Westfalen) ist ihr fremd geworden, zwei Freundinnen hat sie in Frankfurt. Und die Leute vom HIN.

Michael Eismann wird in diesen Tagen in den Ruhestand verabschiedet, doch seine Nachfolge ist gesichert: Zwei Kolleginnen, Astrid Kehl und Ilse Valentin, werden mit je einer dreiviertel-Stelle seine umfangreichen Aufgaben übernehmen, verabschiedet wird der langjährige Leiter der HIN am 17. Juni 2018 im Gottesdienst der Luthergemeinde (10.30 Uhr) und durch einen anschließenden Empfang.


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Autorin

Stefanie von Stechow ist Mutter von vier Kindern und freie Journalistin. Sie schreibt über Themen aus Familie, Bildung und Gesellschaft.

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