Leben & Alltag

Wie der „Kindergarten“ zu einem deutschen Exportschlager wurde

Brauchen Kinder einen gewissen Drill, um Leistung zu bringen? Sind Strafen ein notwendiges Mittel der Erziehung? Diese Auffassung der amerikanischen Professorin Amy Chua werden auch in Deutschland mit Interesse aufgenommen. Doch die pädagogische Erfahrung lehrt etwas anderes: dass Kinder von Natur aus lernwillig sind, aber ihr eigenes Tempo und ihre individuelle Herangehensweise brauchen. Die Grundlagen für dieses Menschenbild legte der Frankfurter Pädagoge Friedrich Fröbel, der Anfang des 19. Jahrhunderts den Begriff des „Kindergartens“ prägte.

Individuelle Lernerfahrungen, Eigeninitiative und Raum für die persönliche Entfaltung – dieses Konzept des Fröbelschen „Kindergartens“ ist heute noch aktuell, wie hier im neuen Kinderhaus Goldstein. Foto: Rolf Oeser
Individuelle Lernerfahrungen, Eigeninitiative und Raum für die persönliche Entfaltung – dieses Konzept des Fröbelschen „Kindergartens“ ist heute noch aktuell, wie hier im neuen Kinderhaus Goldstein. Foto: Rolf Oeser

Im thüringischen Blankenburg entstand dann auf Fröbels Initiative der erste Kindergarten. Die vielseitige Anregung und Anleitung der Kinder geschah durch Bewegungs- und Wortspiele, durch Lieder und Sprüche sowie im Kontakt mit der Natur, und schließlich auch durch speziell konzipiertes Spielmaterial. Der Kindergarten war so von Anfang an ein Ort frühkindlicher Bildung. Auch die Mütter, denen Fröbel damals die Hauptverantwortung für die Erziehung zusprach, sollten im Kindergarten Anregungen und Beispiele für ihr eigenes Handeln finden und das pädagogische Wissen in die Familien weitertragen. Der Begriff „Kindergarten” erwies sich fortan als Exportschlager und fand seinen Weg als deutsches Lehnwort in andere europäische Länder wie auch nach Amerika.

Fröbel, der seine berufliche Laufbahn übrigens als Lehrer an der Frankfurter Musterschule begonnen hatte und dann als Hauslehrer die drei Kinder einer Frankfurter Adelsfamilie betreute, war Schüler des Schweizer Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi. Die „Menschenerziehung” – so der Titel seines Hauptwerkes – lag ihm am Herzen. Das kleine Kind, so seine moderne Auffassung, müsse „selbsttätig in die Welt des Geistes“ eintreten und dabei Hilfestellung durch Erwachsene erfahren.

Allerdings war das pädagogische Konzept des „Kindergartens“ auch anfällig für totalitäre Erziehungsideologien, in Deutschland die braune und die rote: So wenig man Pflanzen in einem Garten einfach frei wachsen und sich entwickeln ließ, sondern gezielt als Nutzpflanzen in Reih und Glied züchtete, so wurden auch Kinder bewusst dem elterlichen Einfluss entzogen und in die vom Staat gewollte Richtung gelenkt. Das ein wenig ans Paradies erinnernde und selbsterklärende Bild vom Garten, in dem sich alles frei und nach eigenen Gesetzen entwickelt, wo also im Blick auf das Kind eine freie und kreative (Selbst-)Beschäftigung Programm ist, wurde pervertiert zu einem Ort planenden und ordnenden Eingreifens, in dem „Unkraut” und Wildwuchs nichts zu suchen hatten.

Die Fröbelsche Wortschöpfung „Kindergarten” ist heute noch in aller Munde, auch wenn man gerade in den Städten im Blick auf die Betreuungszeiten funktional von „Kindertagesstätten” spricht und die „Kindergärtnerin” zugunsten der „Erzieherin” ausgedient hat. Der Wechsel der Berufsbezeichnung spiegelt die Professionalisierung im Berufsbild wider – weg von der romantisierenden und volkstümlichen Vorstellung, eine Kindergärtnerin habe „nur” auf Kinder aufzupassen und mit ihnen zu spielen, hin zur professionellen pädagogischen Fachkraft, die, ganz im Sinne Fröbels, das Kind in seiner jeweiligen Problem- und Fragehaltung ernst nimmt und darin spezifische Lernerfahrungen ermöglicht und fördert.

Eine aktuelle Fachzeitschrift für Erzieherinnen trägt im Untertitel den Dreiklang „Erziehung, Bildung und Betreuung“ und beschreibt damit den umfassenden, Familien ergänzenden und beratenden Auftrag des Kindergartens. Weder geht es einseitig um Betreuung ohne Erziehung und Bildung, noch steht vorschulische Wissensvermittlung im Mittelpunkt. Ziel ist es vielmehr, die kindlichen Ressourcen wie Sprache, Motorik, Sozialkompetenz und Kreativität zu fördern und auf die Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit hinzuwirken. Dabei wird jedes Kind als ganzheitliches Individuum gesehen und darf seine eigene Lerngeschichte haben.

Der hessische Bildungsplan betont allerdings gerade im Bereich des Kindergartens die Bildung gegenüber der Erziehung stärker und formuliert als Ziel „die frühere, nachhaltigere, individuellere und intensivere Bildung der Kinder“. Sie sei „die zentrale Voraussetzung, um in der von kontinuierlichem Wandel geprägten Welt auch in Zukunft zu bestehen.“ Auch wenn hier durchaus vom Kind her gedacht wird, nähren solche Formulierungen doch die oft übertriebene Erwartung, der Kindergarten habe besonders große und schöne „Früchte” zu erzielen, die sich später in der Leistungsgesellschaft behaupten können.

„Gras wächst nicht schneller, wenn man an ihm zieht“

Wenn Lulu rebelliert und nicht mehr Klavier spielen will, hagelt es Strafen. Das Puppenhaus soll der Heilsarmee gespendet werden, wenn das Klavierstück am nächsten Tag nicht perfekt sitzt. Der Entzug des Mittag- und Abendessens sowie die Geburtstagspartys gleich für die nächsten vier Jahre gehören ebenso zum Strafenkatalog.

Die rabiaten Erziehungsmethoden der Yale-Professorin Amy Chua, bekannt als „Tigermama“, werden auch hierzulande diskutiert. Und jede Kindertagesstätte kann bestätigen, dass Eltern der aufstrebenden Mittelschicht schon hier Schulleistungen wie Lesen und Schreiben einklagen. Erfolg ist in der Wissensgesellschaft unabdingbar mit Bildung verknüpft. Alle Eltern wollen das Beste für ihr Kind. Doch was ist das Beste?

Bildung ist jedenfalls etwas anderes als Wissen. Bildung ist die umfassende Aneignung der Welt, sie umfasst musische und künstlerische Fähigkeiten ebenso wie soziale Kompetenz. Ein Kind, das unter enormem Druck aufwächst, kann sich kaum entfalten. Es kann Wissen abrufen, aber das vordringliche Gefühl wird doch eher Angst sein. Mit Angst kann das Kind aber nicht die Welt selbstbewusst erforschen, sich nicht die Welt neugierig aneignen. Dabei „arbeiten“ (wie es die Reformpädagogin Maria Montessori formuliert hat) Kinder ganz freiwillig, sogar hoch konzentriert und ausdauernd. Die 14 Monate alte Lisa zum Beispiel liegt auf dem Teppich und sortiert Plastikschüsseln. Sie versucht, die kleine Schüssel in die große zu stellen. Nicht einmal, auch nicht ein Dutzend mal, sondern immer und immer wieder – wenn man sie lässt. Oder Max, der erstmals eine schiefe Ebene betritt, besser: bekrabbelt. Er probiert es mit großer Hartnäckigkeit, und auch durch Misserfolge lässt er sich nicht von seinem Vorhaben abbringen.

Kinder erobern die Welt – sofort nach der Geburt. Ihre Energie, die Leistung ihres Gehirns, wird nie wieder so groß sein wie in den ersten zwölf Monaten. Und alle Kinder finden den für sie passenden Weg. Die einen krabbeln zuerst rückwärts, die anderen rollen sich mehr als dass sie krabbeln. Aber egal, wie: Am Ende werden sie alle laufen können.

Und so ist es auch auf ihrem weiteren Weg der Bildung. Kinder gehen unterschiedliche Wege in unterschiedlichem Tempo. Sie zu fördern, erfordert deshalb nicht Drill, sondern dass man ihnen Zeit lässt. Ein afrikanisches Sprichwort lautet: „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man an ihm zieht.“ In diesem Sinne ist mehr Gelassenheit in der Erziehung angesagt. Denn nur glückliche Kinder können wirklich erfolgreich sein.


Schlagwörter

Autor

Kurt-Helmuth Eimuth ist Mitglied in der Redaktion von "Evangelisches Frankfurt und Offenbach". Mehr über den Publizisten und Erziehungswissenschaftler ist auf www.eimuth.de zu erfahren.