Was glaubt Ihr denn! „Urban Prayers“ im Frankfurter Schauspiel
„Was glaubt Ihr denn. Wer wir sind. Was wir glauben. Was glaubt ihr denn. Wer wir sind. Wo wir wohnen. Wo wir schlafen. Wo wir arbeiten. Wo wir beten…“ – ein vielstimmiger „Chor gläubiger Bürger“ wird an diesem Abend im Schauspielhaus Frankfurt von dem Schauspieler Edgar Selge und seinem Sohn Jakob Walser, der ebenfalls Schauspieler ist, vorgetragen.
Kaum sagt einer was, gibt es einen anderen, der widerspricht, der in
eine andere Richtung weitererzählt oder von etwas ganz anderem anfängt. „Es
gibt einen Gott. Ja schon, aber welchen? Außerdem: Könnte es nicht auch eine Frau
sein?“ Es geht um alle möglichen Themen, nicht nur um Religion. Es geht
auch um Bezahlen, Helfen oder Heiraten. Es geht um das Verhältnis der Gläubigen
zur sozialen und politischen Umwelt. Der „Chor der gläubigen Bürger“ spricht zu den Nicht-Gläubigen, den Nicht-Religiösen.
Er kann sich auf nichts einigen, hat aber doch eine Gemeinsamkeit: den Glauben
an etwas, das größer, anders oder älter ist als die irdische Realität.
Entwickelt wurden die „Urban Prayers“ vom Theatermacher Björn Bicker nach den Anschlägen des 11. September 2001. Er hatte damals das Gefühl, dass das Theater an der komplexer werdenden Realität vorbei spielt. Er unterhielt er sich mit Menschen aus verschiedenen Glaubensgemeinschaften und aus völlig anderen Welten und Milieus als dem westeuropäischen Bildungsbürgertum.
So
ist zum Beispiel die Geschichte von Leila entstanden, die Edgar Selge im Frankfurter
Schauspiel vorliest: Eine junge Frau hat keine Lust mehr auf die Beliebigkeit
ihrer Existenz und entdeckt den Glauben ihrer tunesischen Großeltern. Erzählt
wird ihre Geschichte aus der Sicht ihres Bruders, einem Architekten, der
staunend beobachtet, wie Leila sich zu den Jeans schließlich ein Kopftuch anzieht und zu einer stolzen jungen Frau wird, die gerne jedem erklärt, warum
sie ihren Kopf bedeckt.
In einer anderen Geschichte leiht Jakob Walser einem Paketboten seine Stimme, der plötzlich mit einem Sikh zusammenarbeiten muss, der einen orangenen Turban trägt. Dieser tiefreligiöse Mann bringt den Postboten dazu, seinen getakteten Arbeitsalltag zu unterbrechen, um einer Kundin zuzuhören, die in Tränen ausbricht, als sie ihr ein Päckchen ausliefern.
„Ich war sofort fasziniert, als ich ‚Urban Prayers’ in einer Buchhandlung entdeckt habe“, sagt Selge im anschließenden Publikumsgespräch. „Dieser Chor, diese Geschichten spiegeln genau das wieder, was uns jetzt doch alle bewegt. Das ist eine Momentaufnahme der Welt, wie sie jetzt ist – in ihrer ganzen Komplexität. Und erstmal ohne zu bewerten.“
„Urban Prayers“ fordere nicht zuletzt dazu auf, sich mit der eigenen Religion und Kultur auseinanderzusetzen, sagte Selge. „Dieser Text provoziert das lauwarme Gefühl des Turbokapitalismus, dass alles gut ist, solange wir nur kaufen können, was wir kaufen können.“
Im moderierten Publikumsgespräch erzählen manche aus dem Theaterpublikum dann auch offen vom eigenen Glauben, von ihrer eigenen Religiosität oder Ungläubigkeit. Einer kritisiert das Theater als Ort der Hochkultur, das am Publikum vorbeispiele. „Björn Bicker ist ja gerade aus dem Theater herausgegangen und hat sich mit den unterschiedlichsten Menschen unterhalten“, erwidert Selge. „Wir haben seinen Text nur jetzt wieder ins Theater hinein getragen. Und jetzt spreche ich hier mit Ihnen darüber. Das ist genau Bickers Idee: Das Theater als Ort der Begegnung. Wichtig, dass man miteinander spricht und nicht übereinander. Alles darf erst einmal sein. Und das gilt auch für jede Religion, jede Kultur.“